[Interview mit Professor Dr. Dr. h.c. Norbert Schrage, Chefarzt der Augenklinik Köln/Merheim]
Schlechter Durchblick – keine Brille: Wie schnell und wo komme ich in die Bredouille?
Norbert Schrage: Spätestens wenn ich ein Moped, Motorrad oder Auto fahren will, muss ich ordentlich sehen können. Damit sind stark weit oder kurzsichtige Menschen sofort von der Teilhabe ausgeschlossen. Dies wird umso dramatischer, wenn der Weg zur Arbeit nur im Individualverkehr bewältigt werden kann oder aber Fahrtätigkeiten zum erwarteten Arbeitsprofil gehören.
Genauso schlimm ist es, wenn man aufgrund fehlender Sehhilfe nur schlecht oder gar nicht lesen kann. Dies betrifft vor allem weitsichtige Menschen, die spätestens bei Arbeiten – zum Beispiel im Lager, beim Sortieren oder in Distributionszentren – nicht in der Lage sind, die entsprechenden Dokumente, Adressen, Listen zu lesen. Sie machen häufig Fehler und werden womöglich als unzuverlässig nicht eingestellt. Nicht besonders zu erwähnen braucht man manuelle Arbeiten, kratzerfreies Arbeiten, Nähen und ähnliche Dinge, die ohne Brille nicht gehen.
Vor allem Kinder, die am Unterricht teilnehmen, müssen immer eine kostenfreie Brille erhalten, damit sie nicht von den wichtigen Kulturtechniken Lesen, Schreiben abgehängt werden und eine soziale Mobilität von vornherein behindert wird.
Was muss sich ändern, damit schnell und möglichst alle den Durchblick behalten?
Brillenwerte oberhalb und unterhalb von 1 Dioptrie sollten als Basisversion kostenfrei durch die Krankenversicherung gestellt werden. Das müssen nicht die „Dior“- oder „Boss“- Brillen sein. Die kann sich jeder gerne kaufen, wenn er mit gutem Durchblick das Geld dafür verdient hat. Aber eine einfache Kassenbrille wäre eine riesige Verbesserung. Es ist auch nicht zu verstehen, wieso ein zu kurzes Bein regelhaft einen Schuh als Prothese auslöst, eine Brille aber keine Prothese sein soll. Hier hat sich die Definition der Krankenversicherungen – „Aus dem Solidarischen gleiche Chancen schaffen“ – längst verabschiedet.
Wie wichtig sind Aktionen wie die „Brille am Dom“?
Sichtbarmachen der Probleme von schlechtem Sehen und dem Zusammenhang mit prekären finanziellen Situationen ist extrem wichtig. Denn schlechtes Sehen führt gleichzeitig dazu, dass selbst bei Gutem Willen und Fleiß die Ausbildung und Arbeit nicht befriedigend bewältigt werden kann. Damit ist dies ein eklatantes Hindernis für die soziale Mobilität, Ausbildung und Erwerbsleben. Die Öffentlichkeit hat das Problem nicht auf dem Schirm daher ist eine solche Aktion wichtig, um das Thema zu fokussieren.