Matthias Becker, geboren am 3. Juni 1911, hat sich seinen Humor immer bewahrt - trotz teils traumatischer Erlebnisse als Sanitäter im Zweiten Weltkrieg.
Wenn man 103 Jahre alt geworden ist wie Matthias Becker, dann kommt es auf einen Tag jünger oder älter nicht mehr an. Wann genau sein Geburtstermin ist, ist deshalb auch nicht so wichtig. „Zweiter oder dritter Juno, ich weiß es nicht mehr, wissen Sie’s?“, sagt er und lächelt. „Na, dann sagen wir jetzt einfach mal dritter Juno!“
Seit einigen Jahren lebt Matthias Becker im St.- Barbara-Haus in Grevenbroich. Seine alte Heimat liegt etwa 60 Kilometer entfernt: Bad Godesberg. Dort hatte der gelernte Polsterer und Dekorateur seinen eigenen Betrieb, eine Polsterei mit etwa fünf Mitarbeitern. Und dort verbrachte er die meis-ten seiner mehr als 100 Lebensjahre: „Ich bin in Godesberg geboren und erwachsen geworden“, sagt er und gerät ins Schwärmen über die Stadt, die seine Stadt ist: „Das Schönste an Godesberg ist die Godesburg. Oder nein, der Rhein. Der Rhein ist das Schönste für mich!“ Er erinnert sich an den Fluss, den er so liebt: „In meiner Jugend war ich im Wanderkreis, und wir waren auch viel im Rhein schwimmen. Immer. Außer im Winter, da war es mir zu kalt.“
Wandern, schwimmen – früher war Matthias Becker viel in Bewegung. Heute fallen ihm die Bewegungen schwer, oft ist er müde. Manchmal liegt er am Nachmittag noch im Bett. Dann sagt er: „Ich bin heute so matt, da wollte ich nicht aufstehen.“ Meistens sitzt er aber in seinem Rollstuhl vor dem kleinen Tisch am Fenster seines Zimmers. Ein bisschen gebrechlich wirkt er, er hört nicht mehr gut, doch wenn Besuch kommt, nimmt er gerne Hand und Unterarm zur Begrüßung fest in seine Hände. Und dann schaut er plötzlich empört auf und bittet mit angestrengt ernster Miene: „Ja, nun lassen Sie mich doch wieder los!“ Dann zeigt er ein breites Grinsen und entblößt dabei die wenigen verbliebenen Zähne in seinem Mund. Der Humor bleibt also jung und kräftig. Die Leiterin des Sozialen Dienstes lacht und sagt: „Der Herr Becker ist eine Ulknudel!“
Und er bestätigt genau das mit einem energischen: „Ich höre heute so schlecht!“ Als der Satz lauter wiederholt wird, schüttelt er den Kopf: „Nein, nein, ich doch nicht!“ Kaum ausgesprochen, zeigt er wieder sein breites Grinsen.
Wenn er redet, spricht sein ganzer, sonst oft so müder Körper mit. Er weitet die Augen, zieht Grimassen und verdeutlicht mit Gesten das Gesagte. Und immer wieder zwinkert er, wenn er einen Satz nicht ganz so ernst gemeint hat. Als er wissen will, warum er befragt wird, und als er als Antwort hört, dass es darum gehe mit Menschen zu sprechen, die älter als 100 sind, sagt er lapidar: „Kenne ich keine!“
Und auch wenn er es lachend gesagt hat: Wer so alt wird wie Matthias Becker, wer die 100 überschreitet, muss mit der traurigen Tatsache leben, dass es keine Weggefährten mehr gibt, keine Freunde, keine Altersgenossen, die dasselbe erlebt haben wie man selbst.
Wer weiß schon noch, wie es im Krieg war. Wenn Matthias Becker davon erzählt, wird seine Stimme etwas härter, seine Sätze werden knapper. Er sagt, er habe „Moskau brennen gesehen“ und sich dabei in die russische Landschaft und ihre Weite verliebt: „Russland ist schön, da möchte ich leben. Wiesen haben die da, ewig weit und grün, und Wälder. Wir haben hier auch Wälder, aber das ist da was ganz anderes.“
Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges war er eingezogen worden, er war „von Anfang an dabei“. Sein ehemaliger Chef gab ihm den Rat, sich für den Sanitätsdienst zu melden, das sei eine Art Lebensversicherung. Das hat er getan, und die Auffassung seines Chefs hat sich bestätigt. Während der gesamten Zeit des Krieges hat er Dienst getan.
„Ich habe gehört, wie die Schüsse neben mir lang sind. Zisch, zisch, zisch, zisch. Aber ich habe sie nur gehört, getroffen haben sie mich nicht. Gott sei Dank!“ Dazu bewegt er seine Hände und Arme schnell wie Kugeln an seinem Kopf vorbei. Andere hatten nicht so viel Glück. Sein Bruder und viele seiner Freunde sind „im Krieg geblieben“, sagt Becker. Sechs Jahre lang hat er als Sanitäter seine verwundeten Kameraden aus den Schützengräben geborgen und im Feldlazarett versorgt. Details will er davon nicht erzählen, er will es keinem Zuhörer zumuten. Nur so viel sagt er: „Ich habe schlimme Sachen gesehen.“ Er ist stolz darauf, dass er einigen Menschen helfen konnte. „Medizin ist etwas Wunderbares.“ Und er ist froh darüber, dass er nie gezwungen war, auf jemanden zu schießen. „Man fragt sich doch: Wie kann man auf einen Menschen schießen?“ Becker gibt sich selbst die Antwort: „Das kann man, das habe ich hundertfach gesehen.“ Hätte er andere töten müssen, er hätte nicht mehr schlafen können, glaubt er, der dem Tod so oft begegnet ist. Dann kommen sie wieder, die düsteren Erinnerungen: Irgendwo in der oberen Eifel habe er geholfen, ein „Heldengrab“ auszuheben. So habe das geheißen. Es war gut 80 Meter lang. Darin haben sie Hunderte gefallene Soldaten bestattet, eng nebeneinanderliegend. „Manche trugen sogar noch einen huckepack“, sagt Becker.
"Ich habe gehört, wie die Schüsse neben mir lang sind."
Für ihn ist es immer noch unbegreiflich, dass es einen Zweiten Weltkrieg gegeben hat. Er erzählt von seinem Vater, einem Schuhmacher, der „vier Jahre in Russland im Schlamm gelegen“ hat während des Ersten Weltkrieges. Der Vater war es auch, der seinen Sohn zum Pazifisten erzogen hat. Und sich den Nationalsozialisten entgegenstellte. „Aber die haben ihn nie geholt“, sagt Matthias Be-cker. Er war nach dem Ersten Weltkrieg in seiner Jugend Mitglied in der Wandervogelbewegung und bezeichnet sich selbst als Pazifist. Die Nationalsozialisten mochte er nicht. Und mit den Anhängern der NSDAP verstand er sich nicht gut. „Aber ich habe ein paar von denen mächtig in den Arsch getreten“, sagt er dann. Dabei grinst er verschmitzt und legt sich gleich danach die Hand über den Mund.
Text: Christina Gigowski
Wenn er redet, spricht sein ganzer, sonst oft so müder Körper mit. Er weitet die Augen, zieht Grimassen und verdeutlicht mit Gesten das Gesagte. Und immer wieder zwinkert er, wenn er einen Satz nicht ganz so ernst gemeint hat. Als er wissen will, warum er befragt wird, und als er als Antwort hört, dass es darum gehe mit Menschen zu sprechen, die älter als 100 sind, sagt er lapidar: „Kenne ich keine!“
Und auch wenn er es lachend gesagt hat: Wer so alt wird wie Matthias Becker, wer die 100 überschreitet, muss mit der traurigen Tatsache leben, dass es keine Weggefährten mehr gibt, keine Freunde, keine Altersgenossen, die dasselbe erlebt haben wie man selbst.
Wer weiß schon noch, wie es im Krieg war. Wenn Matthias Becker davon erzählt, wird seine Stimme etwas härter, seine Sätze werden knapper. Er sagt, er habe „Moskau brennen gesehen“ und sich dabei in die russische Landschaft und ihre Weite verliebt: „Russland ist schön, da möchte ich leben. Wiesen haben die da, ewig weit und grün, und Wälder. Wir haben hier auch Wälder, aber das ist da was ganz anderes.“
Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges war er eingezogen worden, er war „von Anfang an dabei“. Sein ehemaliger Chef gab ihm den Rat, sich für den Sanitätsdienst zu melden, das sei eine Art Lebensversicherung. Das hat er getan, und die Auffassung seines Chefs hat sich bestätigt. Während der gesamten Zeit des Krieges hat er Dienst getan.
„Ich habe gehört, wie die Schüsse neben mir lang sind. Zisch, zisch, zisch, zisch. Aber ich habe sie nur gehört, getroffen haben sie mich nicht. Gott sei Dank!“ Dazu bewegt er seine Hände und Arme schnell wie Kugeln an seinem Kopf vorbei. Andere hatten nicht so viel Glück. Sein Bruder und viele seiner Freunde sind „im Krieg geblieben“, sagt Becker. Sechs Jahre lang hat er als Sanitäter seine verwundeten Kameraden aus den Schützengräben geborgen und im Feldlazarett versorgt. Details will er davon nicht erzählen, er will es keinem Zuhörer zumuten. Nur so viel sagt er: „Ich habe schlimme Sachen gesehen.“ Er ist stolz darauf, dass er einigen Menschen helfen konnte. „Medizin ist etwas Wunderbares.“ Und er ist froh darüber, dass er nie gezwungen war, auf jemanden zu schießen. „Man fragt sich doch: Wie kann man auf einen Menschen schießen?“ Becker gibt sich selbst die Antwort: „Das kann man, das habe ich hundertfach gesehen.“ Hätte er andere töten müssen, er hätte nicht mehr schlafen können, glaubt er, der dem Tod so oft begegnet ist. Dann kommen sie wieder, die düsteren Erinnerungen: Irgendwo in der oberen Eifel habe er geholfen, ein „Heldengrab“ auszuheben. So habe das geheißen. Es war gut 80 Meter lang. Darin haben sie Hunderte gefallene Soldaten bestattet, eng nebeneinanderliegend. „Manche trugen sogar noch einen huckepack“, sagt Becker.
"Ich habe gehört, wie die Schüsse neben mir lang sind."
Für ihn ist es immer noch unbegreiflich, dass es einen Zweiten Weltkrieg gegeben hat. Er erzählt von seinem Vater, einem Schuhmacher, der „vier Jahre in Russland im Schlamm gelegen“ hat während des Ersten Weltkrieges. Der Vater war es auch, der seinen Sohn zum Pazifisten erzogen hat. Und sich den Nationalsozialisten entgegenstellte. „Aber die haben ihn nie geholt“, sagt Matthias Be-cker. Er war nach dem Ersten Weltkrieg in seiner Jugend Mitglied in der Wandervogelbewegung und bezeichnet sich selbst als Pazifist. Die Nationalsozialisten mochte er nicht. Und mit den Anhängern der NSDAP verstand er sich nicht gut. „Aber ich habe ein paar von denen mächtig in den Arsch getreten“, sagt er dann. Dabei grinst er verschmitzt und legt sich gleich danach die Hand über den Mund.
Text: Christina Gigowski