Margret Verheyen, geboren am 21. März 1913, sagt, was sie am Leben halte, sei die Familie.
Margret Verheyen kann sich an ihren Vater nicht erinnern. Sie war 16 Monate alt, als er 1914 starb. Er fiel im Ersten Weltkrieg. Ihre Schwester Maria kam zwei Monate nach dem Tod des Vaters zur Welt.
Keine guten Voraussetzungen für die Düsseldorferin. Sie sagt, sie hatte trotzdem eine wunderbare Kindheit, und erzählt von ihrer Mutter. Jeden Morgen vor 10 Uhr kochte sie das Mittagessen, dann ging sie aus dem Haus, um für andere zu nähen. Abends, wenn sie zurück war, ließ sich die Mutter nicht anmerken, wie erschöpft sie war vom Tag. „Sie brachte uns ins Bett. Liebevoll war sie. Und eine starke Frau. Das Geld, das sie heimbrachte, reichte, damit wir satt wurden.“ Damals war das schon viel.
Seit zwei Jahren lebt Margret Verheyen im Düsseldorfer Edmund-Hilvert-Haus. Sie hat nur wenig hinübergerettet auf die letzte Etappe ihres Lebens im Altenwohnheim. Ihren alten Schrank, ein paar Stühle, den schweren Sessel, in dem sie hauptsächlich sitzt und auf die zwei Dutzend Fotos hinter der Glastür im Schrank schaut. Fotos ihrer Familie, damals und heute. Ihrer Eltern, ihrer drei Kinder, sieben Enkel und neun Urenkel. „Täglich ruft einer an, kommt vorbei oder schreibt eine E-Mail.“ Sie sagt „E-Mail“ mit einer Selbstverständlichkeit, so, als würden alle 100-Jährigen im Internet zu Hause sein. Auf ihrem Tisch liegt ein Laptop. Margret Verheyen hat vor einigen Jahren einen Computerkurs gemacht, seitdem besitzt sie eine E-Mail-Adresse: OmaGretchen@xxx.de.
Um mit ihren Enkeln und Urenkeln zu korrespondieren, hat sie, die noch unter dem Kaiser zur Welt kam, die zeitgemäßen Methoden der Kommunikation gelernt. Wegen ihrer Familie, sagt Margret Verheyen, könne sie noch nicht gehen. Dabei fühle sie sich eigentlich am Ziel ihres Lebens. „Wissen Sie, mit 100 hat man keine Wünsche und keine Träume mehr. Alle meine Freunde und Bekannten sind tot.“ Margret Verheyen hat noch immer eine schöne, straffe Haut, die weißen Haare liegen gut, sie trägt eine Perlenkette. Sie mag nicht, dass sich viele im Heim so gehen ließen – „obwohl die meisten ja noch viel jünger sind als ich“.
Sie selbst achte noch immer auf ihr Aussehen. So wie sie es bereits als junge Frau getan habe. Auf einem alten Foto trägt sie Hut und ein elegantes Kleid. Mit sechs Jahren konnte sie stricken. Mit acht nähte sie Schürzen für die Mädchen ihrer Klasse. Nach der Schule dann lernte sie schneidern und arbeitete Anfang der 30er-Jahre in einem Modehaus auf der Düsseldorfer Kö. Ihren ersten Mantel kaufte sie für 750.000 Reichsmark – das war, als die Inflation in der Weimarer Zeit ihren Höhepunkt erreichte. Damals führte Margret Verheyen ein selbstbestimmtes Leben. „Ich war eine gute Schneiderin, verdiente mein eigenes Geld.“ Während sie das erzählt, wird ihre zerbrechliche Stimme fester. Sie hätte gern die Chancen heutiger Frauen gehabt und eine höhere Schule besucht. Doch dafür habe das Geld gefehlt. „Ich wäre wohl auch gemobbt worden. Ich gehörte ja nicht zur Hautevolee.“
Mit der Heirat 1934 gab sie ihren Beruf auf. Sie schneiderte noch hin und wieder, aber nur für ihre Familie. Ehemann Theo arbeitete als Schriftsetzer. „Reich waren wir immer noch nicht, aber eine schöne Familie.“ Sie brachte drei Kinder zur Welt, obwohl die Ärzte ihr schon nach dem ersten rieten, keine weiteren mehr zu bekommen. „Ich war immer etwas klein und zierlich. Sie meinten wohl, ich wäre zu schwach.“
"Neulich habe ich geträumt, dass zwei Gestalten an meinem Bett standen. Ich habe nur Umrisse erkannt, zwei schwarze Schatten. Ich dachte, jetzt holt er mich, der Tod.
Doch plötzlich waren das nur zwei Schutzengel."
Wie ihre Mutter war Margret Verheyen jedoch stark. Sie überstand Anfang der 40er-Jahre eine lebensgefährliche Kinderlähmung. Sie hatte sich bei ihren Kindern angesteckt, die zuvor geimpft worden waren. „Ich habe meine Kinder geküsst. Da habe ich es bekommen. Kein Arzt hat mich davor gewarnt. Ich hatte nie in meinem Leben solche Schmerzen“, sagt sie und schüttelt sich. Damals lebte sie mit ihren Kindern erst in Thüringen, dann in Tirol, wohin sie evakuiert worden war. Die Bombennächte erlebte sie abseits großer Städte auf dem Land. Das war ihr Glück und Unglück zugleich. Glück, weil sie mit den Kindern außer Lebensgefahr war. Unglück, weil sie das Gefühl hatte, auf dem Land nicht erwünscht zu sein. „In Thüringen beschimpfte man uns als Ausländer, weil wir aus dem Rheinland kamen.“
Sie schwor sich nach dem Krieg, Düsseldorf, ihre geliebte Heimat, nicht wieder länger als für einen Urlaub in Österreich oder Spanien zu verlassen. Nie wollte sie woanders wohnen. Ihr Mann, der 1974 starb, gründete in Düsseldorf die Graphische Kunstanstalt, einen Betrieb, der unter anderem Klischees (Druckvorlagen) herstellte. Zu den Kunden gehörten auch renommierte Künstler. Margret Verheyen, das bescheidene Mädchen, hatte plötzlich Zugang zu anderen gesellschaftlichen Kreisen. Es war ihr Tor in die Welt. Sie, die als Kind immer von einer höheren Schule geträumt hatte, konnte ihren Hunger nach Bildung und Anerkennung endlich stillen.
In ihrem Zimmer hängen einige Bilder, die sie in jener Zeit erworben hat. Eines, ein Aquarell, zeigt ihren alten Schulweg in Düsseldorf-Derendorf. Das Haus, das zu sehen ist, gibt es heute nicht mehr, auch die vielen Bäume sind verschwunden. Das Bild macht deutlich, wie vergänglich die Zeit ist. Und wie lang 100 Jahre sind.
„Neulich habe ich geträumt, dass zwei Gestalten an meinem Bett standen“, erzählt Margret Verheyen, „ich habe nur die Umrisse erkannt, zwei schwarze Schatten. Ich dachte, jetzt holt er mich, der Tod. Doch plötzlich waren das nur zwei Schutzengel.“
Text: Markus Harmann
Um mit ihren Enkeln und Urenkeln zu korrespondieren, hat sie, die noch unter dem Kaiser zur Welt kam, die zeitgemäßen Methoden der Kommunikation gelernt. Wegen ihrer Familie, sagt Margret Verheyen, könne sie noch nicht gehen. Dabei fühle sie sich eigentlich am Ziel ihres Lebens. „Wissen Sie, mit 100 hat man keine Wünsche und keine Träume mehr. Alle meine Freunde und Bekannten sind tot.“ Margret Verheyen hat noch immer eine schöne, straffe Haut, die weißen Haare liegen gut, sie trägt eine Perlenkette. Sie mag nicht, dass sich viele im Heim so gehen ließen – „obwohl die meisten ja noch viel jünger sind als ich“.
Sie selbst achte noch immer auf ihr Aussehen. So wie sie es bereits als junge Frau getan habe. Auf einem alten Foto trägt sie Hut und ein elegantes Kleid. Mit sechs Jahren konnte sie stricken. Mit acht nähte sie Schürzen für die Mädchen ihrer Klasse. Nach der Schule dann lernte sie schneidern und arbeitete Anfang der 30er-Jahre in einem Modehaus auf der Düsseldorfer Kö. Ihren ersten Mantel kaufte sie für 750.000 Reichsmark – das war, als die Inflation in der Weimarer Zeit ihren Höhepunkt erreichte. Damals führte Margret Verheyen ein selbstbestimmtes Leben. „Ich war eine gute Schneiderin, verdiente mein eigenes Geld.“ Während sie das erzählt, wird ihre zerbrechliche Stimme fester. Sie hätte gern die Chancen heutiger Frauen gehabt und eine höhere Schule besucht. Doch dafür habe das Geld gefehlt. „Ich wäre wohl auch gemobbt worden. Ich gehörte ja nicht zur Hautevolee.“
Mit der Heirat 1934 gab sie ihren Beruf auf. Sie schneiderte noch hin und wieder, aber nur für ihre Familie. Ehemann Theo arbeitete als Schriftsetzer. „Reich waren wir immer noch nicht, aber eine schöne Familie.“ Sie brachte drei Kinder zur Welt, obwohl die Ärzte ihr schon nach dem ersten rieten, keine weiteren mehr zu bekommen. „Ich war immer etwas klein und zierlich. Sie meinten wohl, ich wäre zu schwach.“
"Neulich habe ich geträumt, dass zwei Gestalten an meinem Bett standen. Ich habe nur Umrisse erkannt, zwei schwarze Schatten. Ich dachte, jetzt holt er mich, der Tod.
Doch plötzlich waren das nur zwei Schutzengel."
Wie ihre Mutter war Margret Verheyen jedoch stark. Sie überstand Anfang der 40er-Jahre eine lebensgefährliche Kinderlähmung. Sie hatte sich bei ihren Kindern angesteckt, die zuvor geimpft worden waren. „Ich habe meine Kinder geküsst. Da habe ich es bekommen. Kein Arzt hat mich davor gewarnt. Ich hatte nie in meinem Leben solche Schmerzen“, sagt sie und schüttelt sich. Damals lebte sie mit ihren Kindern erst in Thüringen, dann in Tirol, wohin sie evakuiert worden war. Die Bombennächte erlebte sie abseits großer Städte auf dem Land. Das war ihr Glück und Unglück zugleich. Glück, weil sie mit den Kindern außer Lebensgefahr war. Unglück, weil sie das Gefühl hatte, auf dem Land nicht erwünscht zu sein. „In Thüringen beschimpfte man uns als Ausländer, weil wir aus dem Rheinland kamen.“
Sie schwor sich nach dem Krieg, Düsseldorf, ihre geliebte Heimat, nicht wieder länger als für einen Urlaub in Österreich oder Spanien zu verlassen. Nie wollte sie woanders wohnen. Ihr Mann, der 1974 starb, gründete in Düsseldorf die Graphische Kunstanstalt, einen Betrieb, der unter anderem Klischees (Druckvorlagen) herstellte. Zu den Kunden gehörten auch renommierte Künstler. Margret Verheyen, das bescheidene Mädchen, hatte plötzlich Zugang zu anderen gesellschaftlichen Kreisen. Es war ihr Tor in die Welt. Sie, die als Kind immer von einer höheren Schule geträumt hatte, konnte ihren Hunger nach Bildung und Anerkennung endlich stillen.
In ihrem Zimmer hängen einige Bilder, die sie in jener Zeit erworben hat. Eines, ein Aquarell, zeigt ihren alten Schulweg in Düsseldorf-Derendorf. Das Haus, das zu sehen ist, gibt es heute nicht mehr, auch die vielen Bäume sind verschwunden. Das Bild macht deutlich, wie vergänglich die Zeit ist. Und wie lang 100 Jahre sind.
„Neulich habe ich geträumt, dass zwei Gestalten an meinem Bett standen“, erzählt Margret Verheyen, „ich habe nur die Umrisse erkannt, zwei schwarze Schatten. Ich dachte, jetzt holt er mich, der Tod. Doch plötzlich waren das nur zwei Schutzengel.“
Text: Markus Harmann